Leben mit Tschernobyl


Ein Essay von Dr. med. Dörte Siedentopf,

Dezember 2014

so hat es 25 Jahre nach der Tschernobylkatastrophe Irina Gruschewaja formuliert, und das soll auch mein Motto sein bei der Darstellung einiger gesundheitlicher Aspekte für die Kindererholung im Sommer.

Während die Oberflächenverstrahlung nach Tschernobyl kontinuierlich abnimmt, da die radioaktiven Substanzen in das sandige Erdreich  sinken – außer im Wald, wo sie sich an Flechten und Moosen „festhalten“ - dauert es fast 300 Jahre, bis die biologisch besonders wirksamen Substanzen Strontium 90 und Caesium 137 nicht mehr ihre energiereiche Strahlung aussenden, d.h. zu einem stabilen Element geworden sind. Sie befinden sich im biologischen Kreislauf, im Grundwasser, der belebten und unbelebten Natur und gelangen damit auch in den menschlichen Körper.
Bereits niedrige Dosen der harmlos benannten Hintergrundstrahlung verursachen epidemiologisch nachweisbare Gesundheitsschäden. Sie setzt sich zusammen aus natürlich vorkommender terrestischer und kosmischer Strahlung und der Summe aller Strahlung von den Atombombenabwürfen, oberirdischen Atombombenversuchen, AKW-Emissionen, AKW- Unfällen - und Katastrophen, Uranmunition und Uranbergbau sowie den im medizinischen Bereich benutzten Radioisotopen (Röntgen, CT, Strahlentherapie).
Grundsätzlich gilt: Es gibt keinen Schwellenwert, unterhalb dessen Strahlung unwirksam wäre. Ungeborene, Kinder, Jugendliche, ältere und kranke Menschen sowie Frauen und strahlenexponierte Arbeitnehmer sind besonders gefährdet. Es geht dabei aber keineswegs nur um Krebserkrankungen, sondern man schätzt, dass eine ebenso große Zahl von „Nichtkrebs-Erkrankungen“ resultiert. Oft dauert es viele Jahre, bis die durch Strahlen verursachten Krankheiten auftreten. In der Medizin nennt man das die Latenzzeit, und kein Krebs erzählt, wann er entstanden ist.
Durch die Fukushima Katastrophe ist das radioaktive Jod – J131 – mit seinen Auswirkungen auf die Schilddrüse (SD) wieder mehr ins Bewusstsein gerückt. Es entsteht in den Brennstäben. Bei einer Hallbwertszeit von 8 Tagen ist es nach 80 Tagen nicht mehr nachweisbar. Als Gas wird es vom Wind hunderte von Kilometern weit getragen. Eingeatmet oder mit der Nahrung aufgenommen reichert es sich vor allem in der Schilddrüse an, wo Jod zur Bildung von Wachstumshormonen unerlässlich ist. Die energiereiche Strahlung trifft auf Zellen, welche vier mögliche Reaktionen zeigen:
  • Die Zelle stirbt ab,
  • sie verliert ihre Fähigkeit, Hormone zu produzieren,
  • sie kann den entstandenen Schaden reparieren
  • oder sie verändert sich und entartet zu einem Krebs.
Früher war Schilddrüsen-Krebs bei Heranwachsenden extrem selten – nach Tschernobyl schätzt man allein 5-6000 Erkrankte in dieser Altersgruppe. In der Präfektur Fukushima sind bis jetzt etwa 100 Schilddrüsen-Krebsfälle bei Kindern und Jugendlichen beobachtet. Belarussische Ärzte berichten, dass heute sowohl Erwachsene als auch Kinder häufiger an Schilddrüsen-Krebs erkranken als vor 1986. Sie vermuten, dass Caesium - Cs137 - dafür verantwortlich ist. Biologisch entspricht es dem Kalium (K) und entsendet Gammastrahlung, welche den Röntgenstrahlen ähnelt. Das aufgenommene Cs137 befindet sich in allen Organen, den Gefäßwänden, der Herzmuskulatur, dem Gehirn und wird über die Niere und den Darm ausgeschieden. Durch die Plazenta gelangt es in das ungeborene Kind und in das Fruchtwasser und bewirkt dort innere und äußere Strahlung. Wird dadurch in der Gebärmutter die Entwicklung des Embryos massiv gestört, kommt es zu einer Fehlgeburt. Aber auch Frühgeburten oder untergewichtige Kinder am Termin sind Folgen von Niedrigstrahlung. Fehlbildungen werden vermehrt gesehen. Intrauterine Entwicklungsstörungen des Gehirns führen zu diffusen hirnorganischen Schäden. Lehrer beschreiben „auffällige“ Kinder mit Persönlichkeitsstörungen, chronischer Müdigkeit, Konzentrationsschwäche u. ä. Auch das vermehrte Auftreten von frühkindlichem Diabetes mellitus ist vermutlich auf eine vorgeburtliche Störung der Entwicklung der Bauchspeicheldrüse zurückzuführen. Cs137 verbleibt bei Kindern 60-80 Tage im Körper (biologische Halbwertszeit). Wenn kaliumreiche Nahrung angeboten wird, verringert sich der Cäsium-Gehalt im Körper und der Gesundheitszustand verbessert sich. Bluthochdruck oder Herzrhythmusstörungen im jugendlichen Alter können auch ohne Medikamente verschwinden. Cs137 führt in den Gefäßwänden zu Alterungsvorgängen, die im mittleren Lebensalter bereits Schlaganfälle und Herzinfarkte verursachen. In Belarus nennt man das sudden death syndrom.
Ein weiteres gefährliches, künstliches Radionuklid ist das Strontium 90 (Sr90). Dem Kalzium ähnlich reichert es sich in den Knochen und Zähnen an, wo es jahrzehntelang verbleibt. Es sendet aggressive Beta-Strahlung in die Umgebung, besonders in das Knochenmark, in dem sich das blutbildende Organ mit einer hohen Zellteilungsrate und das Abwehrsystem befinden. Die roten und weißen Blutkörperchen, das Gerinnungssystem und das Abwehrsystem werden durch Sr90 beschädigt. Es kommt zu Leukämie, Anämie und häufig langwierigen Krankheitsverläufen, als Ausdruck von „Tschernobyl-Aids“. Strontium ist schwerer als Cäsium und man findet es deswegen in höherer Konzentration im Gebiet Gomel. Wir erfuhren, dass die Konzentration nicht entsprechend der Halbwertszeit um 50% abgenommen hat, sondern in Kartoffeln gleich bleibend hoch ist seit 1990. Möglicherweise hat die Kartoffel eine besondere Aufnahmebereitschaft für Sr90. Da Kartoffeln ein Grundnahrungsmittel sind, werden die Gesundheitsgefahren auch weiterhin bestehen.
Genetische Schäden
In jedem Zellkern ist ein Chromosomensatz mit sämtlichen genetischen Informationen, Genom genannt vorhanden. Veränderungen dieser genetischen Informationen (Mutationen) können spontan auftreten oder werden durch Schädigungen verursacht, u.a. durch radioaktive Strahlung. Besonders gefährdet sind die Zellen, die sich häufig teilen und somit auch der wachsende kindliche Organismus. Je jünger das Kind, umso weniger sind die Zellen in der Lage, Schäden zu reparieren.   Geschieht eine Mutation in einer Ei – oder Samenzelle, so können sich Embryonen entweder gar nicht entwickeln, oder es kommt zu Fehlbildungen. Bis heute sind über 3000 Erbkrankheiten bekannt. So wurden z.B. 9 Monate  nach Tschernobyl mehr Kinder mit Down Syndrom geboren als davor oder danach. Auch bei den Kindern der Liquidatoren fanden sich vermehrt genetisch fixierte Strahlenschäden.  Da Cs 300 Jahre im biologischen Kreislauf bleibt, und durch Nahrung und Wasser in den Organismus  gelangt, werden genetische Schäden weiter zunehmen, da von Generation zu Generation immer mehr Menschen in ihrem Erbgut Mutationen erleiden.
Zum 20. Jahrestag von Tschernobyl wurden in der Zone Denkmäler errichtet zur Erinnerung an die verlassenen Orte, und in den Schulmuseen entstanden Tschernobylausstellungen. Die Katastrophe wurde historisiert, die gesundheitlichen Folgen  sind ein Tabu. Die Kinder, die wir  einladen, wissen meistens nicht, dass wir auch ihre Gesundheit damit stabilisieren wollen. Das gilt ganz besonders für die psychologische Entwicklung der Heranwachsenden. In den betroffenen Gebieten gibt es keine Familie, die nicht von den sozialen oder gesundheitlichen Folgen der Tschernobylkatastrophe betroffen wäre. Die Kinder  erleben Krankheit und Tod in ihrer Umgebung in einem Lebensabschnitt, der eigentlich „unbeschwert“ sein sollte. Wenn sie einige Wochen aus ihrem Umfeld herauskommen, entwickeln sie neue Perspektiven. Lehrer berichten, dass diese Kinder mindestens ein Jahr lang aufnahmefähiger und lernfähiger werden. Wir werden immer wieder in unserem Engagement „belohnt“, wenn wir erfahren, dass bei örtlichen oder nationalen Spracholympiaden „unsere“ Kinder ausgezeichnet werden und Preise bekommen.

Dr. med. Dörte Siedentopf ist Ärztin für Allgemeinmedizin und Psychotherapie

und langjähriges Mitglied des IPPNW - Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges